Armut in Japan

| 25. Mai 2012 | 0 Kommentare

Nachts, wenn die U-Bahnen immer seltener fahren und sich die Tore der Stationen langsam zu schließen beginnen, bereiten die Obdachlosen der Stadt Tokyo ihre Nachtquartiere vor. Sie legen Pappmatten aus, eigentlich sind es nur auseinandergefaltete Kartons. Fast jeder besitzt so einen. Das schützt etwas vor dem kalten Boden. Hier unten ist es wärmer, als draußen. Im Sommer wird es nachts erträglich aber dann beginnt auch die Regenzeit. Ein Grund, aus dem viele Obdachlose eine blaue Plane besitzen. Oft wird diese wie ein Zelt aufgestellt, um das wenige Hab und Gut vor dem Regen zu schützen und ein kleines bisschen Privatsphäre zu schaffen. Ein kleines eigenes Reich auf den Straßen einer der größten Städte der Welt. Doch unter den Obdachlosen hier herrscht eine große Gruppendynamik. Man schließt sich zu kleinen Dörfern in Parks oder in Hinterhöfen zusammen und dort steht dann Plane an Plane. Das Schicksal hat sie alle an diesen Ort geführt und deshalb versucht man sich so gut es geht gegenseitig zu helfen.

Man mag sich wundern, dass es in einem Land, wie Japan, in dem doch alles so geregelt und gut erscheint auch so viele Obdachlose gibt. Doch seit der Wirtschaftskrise in den Neunzigern sind viele Leute arm geworden. Auch die Katastrophe in Fukushima hat einige Leute aus der Region, in der Hoffnung auf ein neues Leben nach Tokyo getrieben.

 

 

Armut, die kennt auch Naoki. In einer BBC Reportage lässt er einen englischen Reporter sein Leben filmen. Naoki war einst ein erfolgreicher Geschäftsmann. Stolz zeigt er noch heute das Bild von ihm und seinem neuen BMW von damals. Heute lebt er zusammen mit seiner Freundin Yoshie in einer Einzimmerwohnung. Nicht er verdient das Geld, sondern sie. Yoshie arbeitet 15 Stunden am Tag. Morgens geht sie ins Büro und abends geht sie mit Männern aus, die sie für ihre Gesellschaft bezahlen. „Nichts weiter?“, fragt der BBC Reporter. „Nichts weiter“, sagt Yoshie. Ein anstrengender Job, wenn man bedenkt, dass sie den Großteil der Nacht mit irgendwelchen Männern verbringt, mit ihnen singt, freundlich ist, lacht und auch noch dazu gedrängt wird viel mit ihnen zu trinken. Am nächsten Morgen geht es nach fünf Stunden Schlaf schon wieder ins Büro. Naoki lebt von ihrem Geld. Er selbst hat nur einen Nebenjob als Briefträger. Ob er seine Freundin liebt, das weiß er nicht. „Vielleicht liebe ich sie“, sagt er „Aber ich weiß, dass ich sie brauche.“

Ohne seine Freundin wäre Naoki ebenfalls einer der ehemaligen Salary men, die nun auf der Straße leben. Doch die jetzige Situation belastet beide sehr. Das Geld reicht vorne und hinten nicht, obwohl Yoshie so viel arbeitet. Um schlafen zu können, nimmt sie Pillen, die dazu führen, dass sie sich vor dem zu Bett gehen ausgiebigen Essattacken hingibt und sich am nächsten Morgen nicht mehr daran erinnern kann. Da ihre Wohnung nur aus einem Raum besteht, in den der Futon, all ihr Besitz und ein kleiner Tisch Platz finden müssen, bleibt Naoki nichts anderes übrig, als sich das mit anzusehen. Auch wenn er es nicht schön findet seine Freundin so zu sehen, hat er sich schon an ihre Verhaltensweisen gewöhnt. Er lebt unter der ständigen Angst, dass sie sich einen neuen Freund sucht. Immerhin ist Naoki so alt, wie ihr Vater.

Als seine Geschäfte nicht mehr liefen, gingen auch seine Familienbeziehungen in die Brüche. Oft ist es für Japaner eine große Schande im Beruf zu scheitern und sie trauen sich dann nicht mehr ihrer Familie gegenüber zu treten. Mit seinem Bruder hat Naoki seit dem Geschäftszusammenbruch nicht mehr gesprochen. In Yoshies Eltern und Geschwistern hat er auch keine neue Familie gefunden, denn die sehen ihn als einen Dorn im Auge und wünschen sich einen anderen Freund für Yoshie.

In der Reportage gibt es auch Einblicke in die japanische Arbeitswelt, denn Naoki nimmt den Reporter mit zu seinem Job als Briefträger. Glücklich ist er mit dieser Arbeit nicht aber es ist das Einzige, das er bekommen konnte. Hier wird auch deutlich unter was für einem Druck die Angestellten in japanischen Firmen stehen. Jeden Tag gilt es dem Chef seine Ergebnisse zu präsentieren. Sind diese nicht gewinnbringend, ist das schlecht. Naoki erklärt, dass viele Geschäftsmänner und Angestellte depressiv werden. Meist bekommen sie dann irgendwelche Tabletten verschrieben. Bei schweren Fällen geht es auch mal zur „Kur“.

Naoki ist weder glücklich, noch zufrieden mit seinem Leben, doch er ist seiner Freundin sehr dankbar dafür, dass er nicht auf der Straße leben muss. Er ist ein außergewöhnlicher Japaner, der einen Fremden in seine kleine Wohnung lässt und ihm ehrlich und ungeschönt erzählt, wie es bei ihm und im Leben vieler anderer Japaner zugeht. Er ist ein starker Mann, der sich nicht dem häufig gewählten Ausweg des Suizids hingegeben hat. Für viele Japaner ist die Belastung im Job so hoch, dass sie es nicht mehr aushalten. Die Selbstmordrate hier ist sehr hoch. Auch schon unter Schülern. Die Gründe können verschieden sein. Viele erleiden ein Burn Out, manche werden auf der Arbeit oder in der Schule gemobbt, weil ihre Ergebnisse nicht gut sind. Diesem Druck halten viele nicht Stand. Die Menschlichkeit wird in Japan an manchen Stellen scheinbar außer Acht gelassen. Menschen funktionieren, wie Maschinen. Nicht jeder kann dem standhalten.

Die Zahl der Obdachlosen allein in der Stadt Tokyo beträgt ca. 6000, landesweit handelt es sich um ca. 30 000 Menschen ohne ein  Zuhause. Meist sind es Männer, die ihren Job in der Firma verloren haben aber auch immer mehr Frauen werden obdachlos. Arbeitsunfähigkeit führt hier in Japan meist zur Entlassung. Unterstützung vom Staat gibt es nicht. Manche der Leute, die unter einer Plane schlafen, gehen sogar arbeiten. Jedoch reicht das Geld nicht für eine Wohnung. Auch von ihren Mitbürgern ist keine Hilfe zu erwarten, denn sie sind ein verachteter Schandfleck der Gesellschaft. Dabei sind die meisten nicht einmal Alkohol- oder Drogenabhängig. Es handelt sich hier um ganz normale, teilweise sogar gebildete Leute, die ein Leben auf der Straße führen.

Eine erste Maßnahme von der Regierung war es, das Problem, im wahrsten Sinne des Wortes, unter den Teppich zu kehren und die Obdachlosen von den Straßen verscheuchen zu lassen. Aus den Augen, aus dem Sinn. Mittlerweile sind es aber zu viele, als dass diese Maßnahme weiter funktionieren könnte.

Ignoriert vom Rest der Gesellschaft schlagen sie sich weiter auf den Straßen Japans durch. Betteln ist hier in Japan gesetzlich verboten. Wer Geld braucht, der muss es sich auf andere Art und Weise erarbeiten.

Das Thema Armut in Japan ist sehr deprimierend, weil man das Gefühl hat, dass die Leute, denen es so schlimm ergeht eigentlich nichts dafür können, dass sie in dieser Situation sind. Es ist schwierig in der japanischen Gesellschaft Verständnis für ein so verachtetes Problem zu schaffen. Immerhin wurde den Obdachlosen in Osaka ein kleines Feld überlassen, auf dem sie nun ihr eigenes Gemüse heranzüchten können. Das ist ein Schritt in die richtige Richtung.

Falls ihr euch noch weiter für dieses Thema interessiert, empfehle ich euch das Internet auf Deutsch und Englisch zu durchsuchen. Es gibt recht viele Publikationen, was wohl daran liegt, dass das Thema so kontrovers erscheint. Ebenfalls empfehle ich euch die BBC Reportage „Japan – A Story of Love and Hate“.

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Kategorie: Allgemein, Julies Reiseblog

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